Die Löwen von Babylon, eine Leseprobe
Kurzbeschreibung:
Der Roman Die Löwen von Babylon ist eine Mischung aus der gegenwärtigen Geschichte des Iraks und der Vergangenheit, der Geschichte des untergegangenen Babylons.
Zeitaktuell wird die Geschichte von Jens Sensburg, eines Archäologen, der die Ruinen von Babylon ausgräbt, erzählt.
Sensburg wird durch oppositionelle Kreise des Iraks und den CIA in die Irak-Krise hinein gezogen. Ihm werden wichtige Unterlagen des vermuteten irakischen Atomprogramms zugespielt. Sensburg wird verhaftet, er verschwindet spurlos in dem Kerkern Saddams.
Seine in Innsbruck lebende Freundin nimmt über eine berühmte Persönlichkeit, dessen Institut sich in Wien befindet, Kontakt zum Mossad auf. Der israelische Geheimdienst schleust sie über Jordanien nach Bagdad ein. Gelingt es ihr noch rechtzeitig Sensburg aus den Fängen des brutalen Regimes zu befreien?
Parallel zu der aktuellen Story, entwickelt sich eine spannende Geschichte aus dem sechsten Jahrhundert vor Christus.
Belsazar ist König von Babylon. Mit Hilfe des Militärs regiert er das Land mit eiserner Faust.
Baumeister Joakim, dessen Vater schon in Babylon Architekt war, wird vom König gezwungen, die nach einem Erdbeben, schwer beschädigten religiösen Gebäude der Stadt wieder zu errichten. Joakim, der dem Wunsch des Königs aus religiösen Gründen widerspricht, wird gedemütigt und durch die Entführung seiner Tochter Hananjah, zur Mitarbeit gezwungen.
Er entwickelt eine List, um sich an Belsazar zu rächen.
Beide Handlungsstränge beinhalten das alte Thema der Hybris, Selbstüberhebung und Größenwahn, die letztendlich in den Untergang führen.
Zwei Leseproben aus dem alten und dem neuem Teil des Buches.
Verschüttet
Sanft nahm er Miriam in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Es war noch immer so wie früher, wenn er sie in den Arm nahm. Nicht ganz so stürmisch wie am Anfang ihrer Ehe, aber immer noch sehr zärtlich. Sie war im Laufe der Zeit gewachsen und tiefer geworden.
Die Schwierigkeiten lernten sie gemeinsam zu überwinden. Ihre Beziehung nach Phasen des Streits zu erneuern, ja zu verjüngen. Sie waren füreinander geschaffen, solange sie gemeinsam lebten, dass wussten sie von Anfang an.
Trotz schwieriger Bedingungen hatten sie ihre Ziele gemeinsam erreichen können. Und das größte Glück kam sehr spät aber dennoch rechtzeitig.
Vor fast 8 Erdumläufen um die Sonne, im Alter von 44 Umläufen, gebar sie ihm das dritte Kind. Ihre Tochter Hananjah.
Dieses späte Geschenk Elohims, des Herrn, kam so unerwartet aber dennoch willkommen, dass es sein Herz vor Glück überfließen ließ.
Er erinnerte sich noch sehr genau an die Stunden des Wartens, bis der erlösende Schrei des Kindes, durch die geschlossene Tür zu ihm drang.
An die angstvollen Minuten, in der er um das Leben seiner geliebten Frau bangte. Und wie sich die Angst beim Anblick des kleinen Wesens, das da am Kopf der Mutter lag löste, um mit weit geöffneten Augen seine neue Umwelt zu erkunden.
Als sich ihre Blicke kreuzten und er das Gefühl hatte, das kleine Wesen würde ihn aus seinen leuchtend, blauen Augen anlächeln, entwich dem winzigen Mund des Kindes ein kleiner Schrei, der seine Seele berührte, den er als Willkommensgruß in der neuen Welt empfand.
Es war der Moment vollkommenen Glücks.
Der Moment, in dem man sich mit allem um sich herum in tiefer Liebe verbindet.
Sanft streichelte er Miriams schwarzes Haar. Hananjah würde ihr sehr ähnlich sein, das war jetzt schon sehr klar zu erkennen.
Während Nehemia und Josua, ihre größeren Brüder, nach ihm kamen. Schon längst waren sie aus dem Hause und hatten sich ihren Lebensweg gesucht. Die Zwillinge glichen sich wirklich wie ein Ei dem anderen. Allerdings nur im Äußerlichen. Ihre Interessen und Neigungen waren unterschiedlich.
Miriam und er hatten ihnen ihre Erfahrungen und das Wissen der Alten vermittelt. Das unerschöpfliche Wissen seines Volkes, das es sich durch die Jahrtausende seiner Existenz angeeignet hatte.
Sie besuchten die besten Schulen, die das Babylonische Reich bieten konnte.
Gezielt wurden sie in ihrer jüdischen, der babylonischen und der assyrischen Sprache unterrichtet.
Nehemia war in seine Fußstapfen getreten, er bereitete sich geschickt auf die Nachfolge vor, ein ebenso erfolgreicher Baumeister zu werden.
Josua war von Anfang an anders, er war zögerlicher, feinsinniger, aber auch er hatte es geschafft, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Als königlicher Schreiber hatte er sich früh schon eine angesehne Position im Reich erkämpfen können.
In dieser Position gehörte er der Gesellschaftsschicht der Schriftgelehrten an, die höchstes Ansehen genoss.
Die Arbeit bereitete ihm Freude und er hatte noch eine große Zukunft vor sich, wie es schien.
Joakim drehte sich um und zog die Tür hinter sich zu.
Die kühle, frische Morgenluft empfing ihn wie ein alter Freund.
Tief atmete er mehrmals durch und entließ die Luft durch seine Nase. Der Gesang der Vögel, das Blau des wolkenlosen Himmels, die Weite bis zum Anhang des Hügels, auf den er nach dem Verlassen des Hauses, vor dem Beginn seiner Arbeit, ab und zu einige Minuten verweilte, gaben ihm die Ruhe und die Kraft sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.
Vom Hügel aus hatte er einen überwältigenden Ausblick auf die große Stadt, die sich vor ihm ausbreitete.
Die große Stadt, an deren Entstehung er seit langen Jahren mitwirken durfte.
Das weiße Häusermeer glich einem großen Teppich, der, umgeben von wuchtigen Mauern, bis an den Euphrat reichte.
Acht große Tore gewährten dem Reisenden Einlass in die bewachte Stadt.
Aus der Mitte der Stadt erhob sich die Prozessionsstraße zum blau leuchtenden Tor der Liebesgöttin Ischtar, das mit wuchtigen Mauern und Zinnen den innersten Bezirk der Stadt schützte.
Dahinter, auf der linken Seite, der große Palast des Königs mit den hängenden Gärten, in der Mitte der große Turm, daneben das Esangila, der große Tempel Marduks, des Reichsgottes Babylons.
Man nannte es auch, das Haus, das den Kopf zum Himmel erhebt. Wunderwerke der Architektur.
Wer hatte schon gedacht, dass eines Tages Bauwerke dieser Größe möglich würden?
Das Esangila und der weitläufige Palast wurden von dem wuchtigen Dreistufenturm übertroffen, der zwischen beiden Anlagen dem Himmel entgegenwuchs.
Der Tempelturm von Etemenanki oder auch der Turm zu Babel, wie er später einmal genannte werden sollte.
Sinnbildlich die Treppe Marduks, des Gottes der Weisheit und der Beschwörungskunst, die er vom Esangila zum Aufstieg in den Himmel benutzte, um mit Sarpanitus die Hochzeit zu feiern
Alle Kanten und Ecken des Gebäudes, auch die Treppengeländer waren mit leuchtenden dunkelblauen Kacheln verziert.
Sie umsäumten die Götter-, Helden- und Tierfriese, die sich über den Säulen auf allen Ebenen befanden.
Zwei lange, steile Steintreppen führten von der rechten und der linken Seite des Turms hinauf auf die erste Ebene.
Während der Unterbau durch schwere, weiße Marmorsäulen gestützt wurde, hatte man beim Bau des Turms auf der ersten Ebene Säulen der halben Stärke, die nach oben verjüngt waren, verwendet.
Von hier aus gingen zwei Treppen von der Vorder- und der Rückseite des Turms nach oben in die zweite Ebene.
Auf der zweiten Ebene waren die Säulen im Gegensatz zur ersten Ebene nach unten verjüngt. Hier befand sich das Observatorium.
Die erfahrensten Sterndeuter des Reiches, die sowohl dem König, wie auch der Mardukpriesterschaft verpflichtet waren, beobachteten und deuteten von hier aus den Verlauf der Gestirne.
Die letzte Ebene des Bauwerks, die zu beschreiten nur dem höchsten Priester des Marduk-Kultes erlaubt war, erreichte man wiederum nur von der Rück- oder Vorderseite des Dreistufenturms.
Hier befand sich hundert Meter über der Stadt der Opfertempel Marduks.
Gesäumt von geraden goldenen Säulen, über denen sich ein Fries befand, mit Ornamenten und Figuren, die Marduks Weisheit und Beschwörungskunst priesen.
Lang zog sich auf der Stirnseite Marduks mystischer Schlangendrache Muschhuschu hin, um seinen Herren zu dienen.
Dahinter Marduk mit rauschenden Bart und Helm, sitzend auf seinem Himmelsthron, die rechte Hand in Richtung Drachen weisend. Marduks Priester beherrschten von hier aus das Reich. Nicht einmal der König hatte Zutritt zu dem höchsten Heiligtum.
Zwei Mal schritt der höchste Priester während eines Erdumlaufs würdevoll die Treppen des Turms hinauf.
Zum Lichtfest, zur Begrüßung eines neuen Erdumlaufs um die Sonne, und zum Erntedankfest, um dann im goldenen lichtdurchfluteten Opfertempel die Dankschlachtung zu vollziehen.
Vor der Zeremonie wurden Böcken und Ziegen die Kehle durchgeschnitten, bis der Bluttrog vollständig gefüllt war.
Nach einem inständigen Dankgebet öffnete der Priester einen Auslass, der das Blut über Blutrinnen, in den blau verzierten Kacheln, ab der dritten Ebene des Bauwerks nach unten strömen ließ.
Für einen kurzen Moment verwandelten das herabfließende Blut alle vier Ecken des Gebäudes in weit sichtbare rote Streifen, die direkt zu Marduks Tempel führten.
Die Reaktionen der anwesenden Bevölkerung waren immer wieder erstaunlich.
Es war der Höhepunkt der Zeremonie, massenhaft fielen die Menschen auf die Knie um zu beten, ihrem Gott zu danken.
Andere waren so überwältigt, sie fielen vor ihrem Gott in Ohnmacht. Bald würde es wieder so weit sein, die riesigen Felder rund um die Stadt waren reif für die Ernte. Goldene Weizenfelder umwogten die Stadt und den Fluss.
Natürlich konnte Joakim von seiner Warte aus die einzelnen Details des Bauwerks nicht genau erkennen. Er kannte aber die Aufzeichnungen und Schilderungen seiner babylonischen Kollegen. Für ihn als Angehörigen des gefangenen Volkes war der heilige Bezirk geschlossen. Nicht einmal das Observatorium war ihm erlaubt. Belsazars strenge Gesetze verboten dies.
Aber trotz allem, vor ihm lag die größte Stadt der Welt, strotzend vor Leben und Kraft.
Er hatte von seiner Kindheit an die Entwicklung dieser großartigsten aller bekannten Städte miterleben dürfen.
Schon sein Vater hatte an der Entstehung der weltlichen Bauten als Architekt mitgewirkt.
Viele Bauwerke trugen in dieser einzigartigen Metropole seinen Stempel und den Stempel seines Vaters.
Sein Vater der die Freiheit noch kannte, als es ein freies jüdisches Volk gab.
Die vielen Geschichten aus der alten Zeit waren ihm immer noch gegenwärtig.
Sein Vater hatte maßgeblich am Erhalt des Tempels in Jerusalem mitgewirkt.
Bis Nebukadnezar den Tempel in Jerusalem, drei Sonnenumläufe vor Joakims Geburt, schleifen ließ, die Metropole vernichtete, den heiligen Zierrat des Tempels mitnahm, und Mittelstand und Adel in die Gefangenschaft nach Babylon führte.
Der König war aber klug genug, den Juden ihren Glauben zu lassen und ihnen Chancen und Möglichkeiten zu geben, um sich in der babylonischen Gesellschaft eingliedern zu können.
Dadurch hatte er die Möglichkeit erhalten, das Handwerk seines Vaters zu erlernen und es auf entscheidendem Gebiet weiter zu entwickeln.
Ja, er konnte heute mit Stolz sagen, einer der besten Baumeister des Reiches zu sein.
Nebenbei hatte er das Vermögen und das Ansehen seiner Familie im Land mehren können.
Sein Glück wurde jedoch immer wieder getrübt.
Wie oft schon hatte man ihn zwingen wollen, Aufträge, die er auf Grund seiner Religion nicht ausführen durfte, anzunehmen. Die Beamten des Königs versuchten immer wieder, seine geniale Baukunst für die Tempel und Statuen der Götter Babylons einzusetzen.
Nebukadnezar respektierte die Religion der Juden, was man aber von Belsazar, der seit zwei Erdumläufen, die Macht von seinem Vater Nabonid übernommen hatte, nicht immer behaupten konnte.
Joakim erinnerte sich noch ganz genau an die wirren Zeiten vor und nach dem Tode Nebukadnezars.
Der mächtige König verlor seine Macht. Er wurde abgesetzt, man munkelte, der König sei verrückt. Aber war es auch so?
Er hatte aus inoffiziellen Kreisen des Hofes gehört, den König zog es vor die Stadt, um unter wilden Tieren zu leben.
Bald darauf wurde der Leichnam des großen Königs, wie es der Brauch forderte, in Honig gelegt und in das Esangila gebracht, um anschließend pompös hinter dem Esangila bestattet zu werden.
Was sich da genau am Hofe abgespielt hatte, war ihm und der Bevölkerung bis heute nicht klar.
Er hatte aber einen Verdacht.
Die babylonischen Religionen kannten viele Wege, viele Richtungen die in die Seligkeit, in den Himmel führten.
Große und kleine Gemeinschaften, die um den richtigen Weg und um den richtigen Gott rangen.
Und sie kämpften unerlässlich und teilweise gnadenlos um die Macht, um ihren Gott und damit sich selbst in die gebührende Position zu bringen.
Nach dem Tod des großen Königs wechselten die Herrscher drei Mal, während sich die Erde sechs Mal um die Sonne drehte.
Die Astrologen und Sternendeuter hatten es ihm bestätigt, fast alle zwei Umläufe wechselte die Macht. Es war eine sehr schreckliche Zeit für das Land und die Stadt.
Die Geschäfte gingen zurück, das Volk war verunsichert, dazu gesellten sich schlechte Ernten und Plagen.
Das Chaos war beispiellos, bis sich Nabonid, ein bis dahin recht unbekannter Reichsfürst durchsetzte, indem er Nebukadnezars Tochter Nitokris heiratete, um mit ihr Belsazar seinen ersten Sohn zu zeugen.
Mit straffen Zügeln einte er das Reich und schaffte Ordnung.
Mit viel Geschick gelang es ihm den angerichteten Schaden wieder gut zu machen, um das Reich zu neuer Blüte zu führen.
Der König war ständig unterwegs.
Seine unregelmäßigen Inspektionen des Reiches führten auch zu einer Straffung des Apparates in der Provinz.
Der König mischte sich bis in die kleinsten Angelegenheiten der Verwaltung ein und übte so einen gewaltigen Druck aus.
Die Verwaltung wurde nach drei Erdumläufen grundlegend reformiert und gestrafft.
Das schaffte nicht nur Freunde, die Zahl seiner Gegner war unübersehbar.
Das gemeine Volk klatschte dem König Beifall, wenn er durch die Straßen zog.
Aber wer war schon das Volk, diese Leute waren nicht dumm, sie verstanden die Lage sehr genau, sie hatten aber keinen Einfluss auf den Ablauf der Politik
Ein ganz besonders großer Dorn im Auge war dem König die gewaltig auswuchernde Priesterschaft des Stadt- und Reichsgottes Marduk. Ihre große Anzahl, ihre Privilegien und ihr immens verschwenderischer Lebensstil fraßen das Steueraufkommen des Staates zu großen Teilen einfach auf.
Die Priesterschaft stand in der Hierarchie gleichwertig neben dem Adel des Reiches.
Auf Grund ihrer Größe und ihres Einflusses auf alle Stände im Reich hatte sie eine unglaubliche Machtfülle anhäufen können.
Die Priester nutzten alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um ihre Privilegien zu erhalten, ihren Einfluss und ihre Macht ständig zu erweitern. Sie wurden dadurch immer mehr zum Staat im Staate.
Das musste automatisch zum Konflikt mit dem König führen. Nabonid erkannte, dass die Priesterschaft der größte Gegner seiner Reformen war.
Ihr Einfluss im ganzen Land, bei allen Ständen, übertraf seine Möglichkeiten um ein Vielfaches.
Was nützte ihm der direkte Zugriff auf die Verwaltung und das Militär?
Er konnte die Priesterschaft, die ihren Einfluss im Volk geschickt nutzte, nicht einfach ausschalten und das Land in einen Bürgerkrieg führen!
Außerdem gab es ständig Probleme an den Grenzen des Reiches. Dieses große Gebilde, das sich Babylon nannte, musste ständig verteidigt und erweitert werden.
Es kostete dem König eine enorme Kraft, aber durch kluges Taktieren gelang es ihm Stück für Stück seine Pläne durchzusetzen.
Das Glück schien auf seiner Seite zu sein.
Seine Verwaltungs- und die kurz danach beschlossene Steuerreform brachten der Wirtschaft des Reiches Erleichterung. Das Land fing wieder an zu blühen, während sich die Priesterschaft beharrlich seinen Veränderungen widersetzte.
Es kehrte eine lange Zeit trügerischer Ruhe ein.
Aus Gesprächen mit Daniel, dem großen jüdischen Propheten, wusste er, dass sich der König langfristig eine Lösung des Problems erdacht hatte.
Schon seit geraumer Zeit pflegte er Kontakte zu der Priesterschaft des Mondgottes Sin.
Er unterstützte heimlich deren Bestreben, den Marduk Priestern ihre Stellung im Reich streitig zu machen.
Es lag ganz offen auf der Hand und es wurde von der Mardukpriesterschaft als Provokation gewertet, dass der König regelmäßig, während seiner raren Aufenthalte in der Stadt die Gottesdienste zu Ehren des Sin besuchte.
Er huldigte nicht den Gott Hamurapis, des ersten Reichsgründers, der vor ewigen Zeiten den angeblich wahren Gott in Babylon einsetzte.
Marduk, den Gott Hamurapis und Nebukadnezars, der von den großen Königen verehrt und dem die größten Bauten dieser gewaltigen Stadt gewidmet waren.
Für einen Juden war die Vielfalt der babylonischen Religionen verwirrend.
Es gab viele Götter, eine unüberschaubare Götterfamilie, die es zu verehren galt, die untereinander konkurrierten und die alle ihre Anhängerschaft hatten.
Sie hatten alle größere und kleinere, entsprechend der Größe ihrer Anhängerschaft, würdige Tempel, in denen sie ihre religiösen Kulte vollziehen konnten.
Und alle wurden vom Staat unterstützt und gefördert. Die einen mehr, die anderen weniger.
Dem Neid und der Zwietracht waren damit Tür und Tor geöffnet.
Und immer wieder gab es neue Bündnisse unter den Religionsführern.
Die Priesterschaften der Hauptgötter:
>Marduk,
>Anu, des Himmelsgottes,
>Adad des Wettergottes,
>Ea, des Gottes des Süßwassers,
>Ischtar, der Muttergöttin /Liebesgöttin,
>Enlil, Gott des Landes und des Sturmes,
>Sin, Mondgott, und
>Schamasch, des Sonnengottes
waren untereinander verfeindet, schlossen aber je nach Bedarf Bündnisse, die ihren Interessen entsprachen. Und das waren wahrlich nicht immer göttliche Interessen. Es ging meistens um ganz unheilige, materielle Dinge.
Und um die Lage noch anschaulicher zu machen, musste man bei der Schilderung der Gesamtsituation berücksichtigen, dass die zuvor erwähnten Hauptrichtungen in über tausend Untergruppierungen gespalten waren.
Alle versuchten auf den Staat und den König in ihrem Sinne Einfluss zu nehmen. Während der König das Wohl des Staates im Auge haben musste. Wahrlich keine leichte Aufgabe!
Wer sich in diesem Wespennest falsch verhielt wurde umgehend gestochen und kalt gestellt. Das wusste Nabonid genau.
Im Interesse des Landes wollte er den Knoten jedoch anfänglich behutsam lösen.
Seine Gespräche mit den Priesterschaften wurden konterkariert, ganz besonders von der Marduk Priesterschaft, denn die hatten am meisten zu verlieren.
Sie setzten alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ein, um Anordnungen des Königs zu blockieren und zu unterlaufen.
Auf allen Ebenen wurde gegen den König gehetzt und gestichelt. Nitokris, Nebukadnezars leibliche Tochter, Nabonids Gattin, die Mutter Belsazars, durch Geburt Trägerin reinsten, adligen Blutes und gläubige Anhängerin des Marduk-Kultes, hatte Zugang zu allen königlichen Entscheidungen.
Ihr Wissen und ihre Treue zu ihrem Gott, verschafften der Priesterschaft Marduks entscheidende Vorteile.
Sie nahmen die Planungen des Königs in ihre Predigten und Gebete auf und verkündeten dem Volk vorweg, sehr raffiniert, mal versteckt, mal offen, je nach der Lage im Reich, ihre Interpretation der zukünftigen Geschehnisse.
Dadurch unterstrichen sie ihre Fähigkeit des in die Zukunft Sehens und verknüpften dabei sehr geschickt ihr Ansinnen mit den alten Schriften. Und somit standen sie immer auf dem Boden der religiösen Wahrheit -und der König draußen.
Die Heirat Nabonids mit Nitokris, anfänglich aus Liebe geboren, erwies sich zum Schluss als reines Zweckbündnis.
Die Spatzen pfiffen es von den Dächern der Stadt.
Beide wollten von Anfang an die Macht.
Nabonid, um unangefochten zu herrschen.
Nitokris, um dem Blute ihres Vaters zukünftig in der adligen Gesellschaft den gebührenden Platz zuzuweisen.
Ihr erstgeborener Sohn Belsazar, sollte das Erbe des Großvaters antreten, sein Blut in die Zukunft befördern und das Reich zu neuer Größe führen. Und das alles zu Ehren Marduks.
Deshalb hatte sie viel Zeit für seine Erziehung im religiösen Sinne verwendet, während ihr Gatte sich von ihr fern hielt und sich im Reich herumtrieb, sich von Marduk immer weiter entfernte, die Gegner Marduks stärkte.
Kraft und Trost fand sie für ihre schwere Aufgabe bei den Priestern, die ihr nicht nur mit Rat und Tat zur Seite standen.
Und so war es in ihrem Leben immer gewesen. Die Priester hatten ihr in schwersten Stunden Schutz und Beistand gewährt.
Zu gut war ihr noch in Erinnerung, als ihr Bruder Amel-Marduk die Nachfolge ihres Vaters antrat, um nach zwei Erdumläufen auf dem Thron ermordet zu werden.
Die Angst vor den Häschern des Ursupators , Neriglissars, ein Schwager, im Range eines Generals, der ihre Dynastie jagen und vernichten wollte, hatte ganz tiefe dunkle Spuren in ihrer Seele hinterlassen - aber auch eine nicht endende Dankbarkeit ihrem Gott gegenüber, der sie aus höchster Not errettete.
Erst viel später würde die Welt erfahren, dass hinter der Verschwörung der Klerus des Marduk-Kultes stand.
Doch was war ihre Erziehung wert gewesen, die sie dem Prinzen hatte angedeihen lassen?
Wie man heute wusste, war Nabonid mit seiner Politik letztendlich an dem Widerstand der Priester gescheitert.
Sie hatten es geschafft, ihren Einfluss in der Zeit seiner alleinigen Regentschaft, die sieben Erdumläufe währte, zu nutzen.
Als der König von einem Krieg aus dem südlichen Teil der arabischen Halbinsel zurückkehrte, setzte ihn seine Leibgarde fest.
In einer gemeinsamen Verschwörung des Hofes und der Priesterschaft wurde dem König unter Androhung des Verlustes seines Lebens zu verstehen gegeben, das er unter Verzicht auf die Regentschaft, zusammen mit seinem blutjungen Sohn Belsazar das Reich weiterhin als König repräsentieren durfte.
Um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen, das war die Lehre aus der chaotischen Zeit unter den drei Königen, wurde der Putsch als notwendige Maßnahme zum Erhalt der Regierungsfähigkeit des Reiches gepriesen.
Man gab vor, der König könne aus gesundheitlichen Gründen die Macht nicht mehr alleine ausüben.
Nunmehr gab es zwei Könige im Land, den König und den Regenten. Der König musste die Stadt daraufhin in kürzester Zeit verlassen und zog mit einem kleinen Teil des Hofstaates in die Stadt Telma.
Die Macht war für ihn Zeit seines Lebens verloren und das sich daran nichts änderte, dafür sorgte die Garde, die ihn angeblich schützte.
Pompös wurde der junge Regent in sein Amt eingeführt. Er erhielt die Würde eines Königs von Babylon.
Überglücklich umarmte ihn Nitokris, sie war am Ziel ihrer Wünsche. Endlich würde sich ihr Blut erneut in die lange Kette der Herrscher von Babylon einreihen. Die Dynastie war erst einmal gesichert aber auch ihre Macht und die Macht des Marduk-Kultes. Alles andere würde sich von selbst ergeben.
Sie hatte ihr Möglichtes getan, um der Geschichte ihres Geschlechts den Weg zu ebnen.
Um die Frage noch einmal zu wiederholen, was hatte die Erziehung des Regenten gebracht?
Schon nach kurzer Zeit wurde dem Volk klar, wer sich da auf dem Thron des Reiches etabliert hatte.
Die Steuern wurden erneut erhöht, die Pracht und der Glanz des Hofes sollten nach der Ansicht des Regenten und seiner Mutter weit in die Welt hinausstrahlen.
Die Feste und Gelage am Hofe waren legendär.
Bis sich der Regent mit seinen Verbündeten und Gönnern überwarf. Der junge König entwickelte im Amt eigene Ideen und Talente.
Teils geschickt, teilweise dilettantisch, nahm er Ideen und Anregungen aus den verschiedenen Gruppen der Gesellschaft auf, um sie dann in seinem Sinne umzusetzen. Meistens nicht zum Vorteil der Betroffenen.
Sehr schnell hatte er begriffen, wie er die Priesterschaften und andere Gruppen im Reich spalten und beherrschen konnte.
Dabei waren Verrat und Intrige seine bevorzugten Werkzeuge.
Seine Macht stützte sich auf sein Militär.
Die Generäle hatten jederzeit Zugang zum König.
Große Berühmtheit erlangten die Reiterspiele und anschließenden Gelage mit seinem Tross im Laufe der wenigen Jahre seiner Regentschaft.
Die Lage stand nicht gut für das Land.
Der persische König im Osten schickte sich an seine Machtpositionen auszubauen.
Man munkelte im Lande, dass Kyros mit seinen persischen und medischen Armeen das Land angreifen werde. Gerüchte dieser Art bahnten sich immer wieder ihren Weg in die Öffentlichkeit.
Joakim konnte sich aber überhaupt nicht vorstellen, wie man diese gewaltigen Festungsmauern überwinden konnte, die zudem noch vom Euphrat geschützt wurden?
Zumal die große Stadt rundherum von Garnisonen, bestehend aus Elitesoldaten des babylonischen Heeres geschützt wurde.
Aber wie die Geschichte es immer wieder bewiesen hatte, große Reiche wurden nicht von außen zerstört, sie zerfielen zumeist von innen und dann war es nur noch eine Frage der Zeit, wann sie von Aggressoren zerstört wurden.
Wie eine reife Frucht, die einfach so vom Baum fiel.
Wie gut sich der junge Regent auf diese Lage vorbereitet hatte, sollte sich aber erst in der Zukunft zeigen. Eigentlich konnte es nicht viel schlimmer kommen.
Wie gesagt, Belsazar spielte seit Jahren die unterschiedlichsten Gruppen des Landes gegeneinander aus. Skrupellos benutzte er seine Macht um seine Ziele zu erreichen. Seine Ziele waren meistens keine hehren Ziele.
Man hatte das Gefühl, das sich seine Regentschaft nur um sich selbst und sein Gefolge drehte.
Im ganzen Land hatte er seinen Samen im Suff gestreut.
Seine Kebsweiber und deren Kebskinder waren in fast allen Schichten zu finden. Ob das wohl im Sinne seiner Mutter Nitokris war?
Seine Kaltblütigkeit und Unbarmherzigkeit waren landauf und landab berüchtigt.
Gnadenlos ließ er seine Kritiker verfolgen und beseitigen.
Auch das Volk hatte unter Belsazar zu leiden.
Die Minoritäten im Lande wurden immer weiter zurückgedrängt.
Sie wurden, sofern sie nicht unbedingt notwendig waren, von ihren Ämtern und Posten gejagt.
Zur Durchsetzung seiner Mittel war dem Regenten und sein Gefolge jedes Mittel Recht.
Mit der Rechtsauffassung der alten großen Könige Hamurapis, Nebukadnezar I, Nabupolassar und Nebukadnezar II hatte das hier schon lange nichts mehr zu tun.
Es fing ganz harmlos mit Witzen über Minderheiten an, um dann zu eskalieren. Die moralischen Barrieren fielen, derbe Judenwitze machten ihre Runde, aus Witzen wurden Übergriffe.
Zusätzlich wurde den Minoritäten im Reich das Leben erschwert, neue Lasten kamen hinzu, steuerliche aber auch rechtliche Einschränkungen.
Während sich Hofstaat und Militär bereicherten, verarmte das Land.
Die Bereitwilligkeit der Bevölkerung kannte aber ihre Grenzen.
Es ging seit einiger Zeit ein Murren durch das Volk.
Aber die Lage war noch nicht schlimm genug. Es war immer noch genug Essen im Lande, keiner musste hungern.
Joakims Blick glitt über die herrliche Stadt zu seinen Füßen.
Das Farbenspiel in der Morgensonne hatte noch zugenommen.
Hinter der Stadt brach sich das Licht der Sonne im Wasser des Euphrats und warf kleine silberne Blitze, entstanden durch den Wellenschlag, gegen die dicken Befestigungsmauern der Stadt.
Davor lagen die hängenden Gärten der Semiramis.
Das opulente Grün der Pflanzen, das sich im Kontrast zum weißen Marmor der Säulen und breiten Treppen befand, spiegelte sich im Wasser des Euphrat wieder.
Aber irgendetwas stimmte heute Morgen nicht?
Es war nicht so wie sonst.
Er sah direkt in die Stadt, die gerade aus ihrem Schlaf erwachte und er spürte, dass etwas fehlte.
Ihm wurde auch schnell klar, um was es sich da handelte.
Es fehlte die natürliche Begleitung in den Morgen, die Musik der Natur, das Konzert eines beginnenden Tages, die Ouvertüre in einen prachtvollen Morgen.
Um ihn herum war es totenstill.
Kein Lufthauch bewegte die Zweige, die Vögel hatten das Singen eingestellt, sie waren gar nicht mehr da.
Die Stille um ihn herum schien ihn beinahe zu erdrücken.
Er hielt inne und wartete, jeden Augenblick musste es ja wieder losgehen - aber es kam nichts.
Es fehlte das fröhliche Konzert der Natur, der Vogelgesang.
Joakim sah sich prüfend um, aber es waren keine Vögel, geschweige denn andere Tiere zu sehen.
Ab und zu hatte er dem possierlichen Spiel der Füchse in der Morgendämmerung zusehen können, diesmal regte sich nichts.
Er bekam immer mehr das Gefühl, das sich die bleierne Stille sogar noch steigerte.
Er konnte seinem eigenen Atem lauschen.
Eine beklemmende Ahnung machte sich in ihm breit.
Er blickte um sich, denn er hatte das Gefühl, das sich ein wildes Tier anschlich oder ein Fremder, der ihn hier draußen ganz allein auf sich gestellt, ohne Schutz überfallen und töten könnte.
Er hörte sein Herz bis in den Hals hineinschlagen und der Druck den er empfand steigerte sich mit jeder Sekunde.
Eine vergleichbare Situation war ihm bis dahin fremd.
Eine diffuse Ahnung steigerte sich in ihm zur Angst, immer stärker, ja fast bis zur Panik.
Er musste sich mit aller Gewalt zusammenreißen, um seinen Blick wieder auf die Metropole richten zu können.
Das wenige Leben, das sich in der Morgenfrühe in der Stadt entwickelte, schien augenblicklich ins Stocken geraten zu sein.
Die Menschen, die er vom Hügel aus beobachtete, hielten in ihren Tätigkeiten inne.
Manche fassten sich an die Stirn, andere drehten sich ungläubig um, so als ob sie jemanden hinter sich vermuteten.
Es schien so, als ob die Natur einen geraumen Moment an sich hielt um das Unerwartete in Empfang zu nehmen. Begleitet von der unheimlichen Stille, die sich wie eine große Schale über das Land gelegt hatte.
Die bleierne Ruhe um in herum, wurde plötzlich durch das Bellen und Jaulen der Hunde in der Stadt durchbrochen.
Kurz darauf folgte ein leichter Stoß im Erdreich unter ihm, dann der nächste Stoß, schon viel kräftiger.
Der darauf folgende Erdstoss hob ihn hoch und ließ ihn von dem Hügel in Richtung Stadt den Hang kopfüber herunter stürzen.
Mit Sand und Geröll rollte er den Hang abwärts, um mit großer Wucht gegen einen alten Baumstumpf zu krachen.
Augenblicklich durchzog ihn ein stechender Schmerz.
Er brüllte laut, aber sein Klagen ging gnadenlos in dem Getöse um ihn herum unter.
Er hatte augenblicklich das Gefühl, die Erde würde unter ihm aufbrechen.
Mit dem rechten Arm umklammerte er den Stumpf des Baumes, um nicht noch weiter von der tobenden Erde herunter gestoßen zu werden. Während er sich krampfhaft an dem Stamm fest hielt, sah er, wie seine Stadt erzitterte und erbebte.
Die wuchtigen Wälle, der riesige Turm, alles bewegte sich.
In den Sekunden der Ruhe zwischen den Erdstössen, konnte er menschliche Schreie aus der Stadt vernehmen.
Er sah wie einige Bauten und Türme in sich zusammenbrachen um die geflüchteten Menschen auf den Straßen unter sich zu begraben.
Es schien kein Ende nehmen zu wollen.
In immer kürzeren Abständen kamen die heftigen Erdstösse zurück, um den Schaden in der Stadt zu vergrößern.
Wie lange würde der große Turm dieser Gewalt noch standhalten?, fuhr es ihm durch den Kopf.
Waren die Sperren noch intakt, die die Stadt vor dem Hochwasser führenden Euphrat schützten?
So schnell wie es gekommen war, verschwand es wieder.
Urplötzlich war es totenstill, fast so wie vor dem schrecklichen Ereignis.
Aber die Lage war vollkommen verändert.
Sein Körper war vom Geröll des Hügels überdeckt. In seinem Gesicht mischten sich die Farben Grau und Rot, Blut und Staub.
Sein noch immer sportlicher Körper fühlte sich wie zerschlagen an.
Allmählich löste er seinen Arm vom Baumstamm.
Er zitterte am ganzen Körper.
Die Wucht des Ereignisses, der Schmerz in der linken Schulter, bewirkten, dass er keinen vernünftigen Gedanken fassen konnte.
Langsam setzte sich aber dann doch sein Realitätssinn durch.
Seine ersten klaren Gedanken waren: Miriam, Hananjah, wo seid ihr? Er schrie es aus voller Seele heraus, bis ihn ein böser Schmerz aus seiner gebrochenen Schulter zusammenzucken ließ: Nehemia, Josua, kommt helft!
Er hustete unter Schmerzen, um den Staub aus seinen Lungen zu bekommen.
Sein Blick glitt über die schwer beschädigte Stadt, in der sich seine Söhne befanden.
Mit aller Gewalt wollte er sich von dem traurigen Anblick der großen Metropole abwenden, um zu seinem Haus, zu seiner Frau und seinem Kind zu eilen, es gelang ihm aber nicht.
In der Stadt machte sich das Geschrei der verletzten und in Panik geratenen Menschen breit.
Mütter schrieen nach ihren Kindern. Männer wühlten mit bloßen Händen im Schutt ihrer Häuser, um ihre Familien zu retten. Gelegentlich sah er Feuer ausbrechen.
Aber das war noch nicht das Finale, es sollte noch viel schlimmer kommen.
In dem Geschrei und Gebrüll, der in Panik geratenen Menschen, vernahm er ein Geräusch, das langsam, aber immer stärker anschwoll.
Er wendete seinen Blick in die Richtung aus der er das Rauschen vermutete.
Und dann sah er es, es ließ ihm den Atem stocken.
Haushoch hatten die Erdstösse das Wasser des Euphrat zu Wellen auftürmen lassen, die sich mit einer kaum zu beschreibenden Geschwindigkeit auf die Wälle der Stadt zu bewegten.
Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen sah er, wie schnell sich die großen Wellen ausbreiteten, um gegen die wuchtigen Wälle der Stadt zu schlagen und dabei Teile der Befestigung herauszuspülen.
Große Transportkähne wurden von der Flut mitgerissen und federleicht emporgehoben, um gleich darauf an den Wällen der Stadt zu zerschellen.
Er sah wie die große Brücke über den Euphrat, die das Westufer mit der Altstadt verband, in den Fluten verschwand.
Das Wasser des Euphrat bahnte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit seinen Weg um die riesigen Mauern, um dann durch die offenen Tore in die schwer geprüfte Stadt einzusickern.
So was hatte er noch nicht erlebt.
Ihm waren aber die Erzählungen der Alten bekannt.
Aus der Geschichte des großen Königs Gilgamesch wurde von einer großen Flut berichtet, jetzt verstand er, was damit gemeint war. Ähnlich muss es auch damals gewesen sein!
Wie viele Menschen werden jetzt in diesen Sekunden unter dem Schutt ihrer Häuser ertrinken?, war seine ängstliche Frage.
Er fühlte einen starken Drang zum Helfen in sich, er musste aber zurück, zurück zu Miriam und Hananjah!
Ächzend wendete er sein Antlitz von der beschädigten Stadt ab, um sich mühsam durch das lose Geröll den Hang hinaufzuschleppen.
Doch was er dann sah, ließ sein Herz versteinern.
Sein Dorf war halb zerstört, wo war sein Haus, es stand doch am Rande des Dorfes?
Sollte dieser Schutthaufen seine Behausung und die seiner Familie gewesen sein?
Er lief schneller, immer schneller. Er spürte kaum den Schmerz in seiner Schulter. Ihn trieb nur noch die wahnsinnige Angst um seine Lieben, die er dort unter den Trümmern vermutete.
Es war ihm klar, dass ihm nur eine geringe Zeitspanne zur Verfügung stand um ihnen zu helfen.
Die suchenden und schreienden Menschen um sich herum nahm er nicht mehr wahr.
Wie ein Besessener fing er mit der intakten Körperhälfte an, an der Stelle den Schutt und die Lehmziegel wegzuräumen, unter denen er Miriam und Hananjah vermutete.
Und alle Bewohner des kleinen Ortes taten es ihm gleich.
Die Menschen deren Häuser verschont oder nur wenig beschädigt waren, gruben mit Gerät oder ihren bloßen Händen nach den Opfern des Bebens.
Sein Nachbar Aaron half ihm beim Beseitigen der schweren Balken und Ziegel.
Aaron nahm einen Ziegel in die Hand und schlug damit auf die Ziegel die unter ihm lagen. Und es geschah ein Wunder.
Sie hörten ein leises aber stetiges Klopfen unter sich, also lebte noch jemand.
Das Klopfen spornte sie an, sodass sie noch schneller den Schutt mit ihren Händen beseitigten.
Es kamen weitere Frauen und Männer aus dem Dorf und gesellten sich zu den Beiden, um schweigend zu helfen.
Verbissen kämpften sie sich immer tiefer in den Schutthaufen, der noch vor kurzem ein Haus war, sein Haus, das ihm und seiner Familie Sicherheit und Geborgenheit geboten hatte.
Der alte Beduinenbrunnen
Er hatte sich dann doch entschlossen, Ringmann nach
Al Hillah in die Notaufnahme des Stadtkrankenhauses zu bringen.
Spät in der Nacht kehrten sie in das Camp zurück, um sich schlafen zu legen.
Entsprechend müde schleppte er sich über den Vor- und Nachmittag, des folgende Tages, um die Ausgrabungen zu überwachen.
Werner Ringmann war fürs Erste außer Gefecht gesetzt, der große Mann würde die nächsten Wochen entweder nur stehend oder auf dem Bauch liegend verbringen.
Sensburg schaltete den Vierradantrieb des Landcruisers zu, um auf der alten Karawanenstraße, zu dem Treffpunkt am alten Beduinenbrunnen, zu fahren, der in dem Brief, der ihn im Al-Rashid-Hotel zugesteckt worden war, vorgeschlagen worden war.
Trotz seiner Müdigkeit war er hellwach.
Wer mochten die Leute sein, die ihn da zu einer gemütlichen Tasse Tee eingeladen hatten?
Und was noch viel wichtiger war, über welches geheimes Wissen verfügten sie? Was wussten sie über angebliche, archäologische Funde in der Wüste?
Vorstellbar war das. Bloß warum wandte man sich ausgerechnet jetzt an ihn?
Viele Fragen standen da im Raum.
Deshalb musste und wollte er diesen Termin nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Wer weiß, wie lange er noch Zeit hatte, in diesem Land zu forschen, der englisch amerikanische Aufmarsch war sehr weit gediehen.
Und es sah nicht so aus, als ob die ganze Angelegenheit im Frieden enden würde.
Langsam umfuhr er ein Schlagloch nach dem anderen, um seinen Rücken und das Auto zu schonen.
Der Landcruiser war zwar genau für diese Bedingungen konstruiert, aber die Blattfederung des Autos verzieh keine Fahrfehler.
Wie mochte es Judith gehen?
Den Brief an sie hatte er geschrieben, aber noch nicht abgeschickt.
Er vermisste sie immer mehr und freute sich auf ein Wiedersehen.
Von weitem konnte er den alten Beduinenbrunnen schon sehen.
Aber merkwürdigerweise regte sich dort nichts.
Außer dem Brunnen war dort nichts.
Sensburg lenkte das Fahrzeug direkt zu dem Brunnen, um dort auszusteigen.
Kein Mensch oder Tier war weit und breit zu erkennen.
Er sah auf seine Armbanduhr, 16.50 Uhr. Zehn Minuten zu früh.
Es beunruhigte ihn aber nicht, er kannte die arabische Mentalität Zu -spät Kommens genau.
Deshalb hatte er sich auf ein längeres Warten eingestellt.
Aber er brauchte nicht lange zu warten, ein Fahrzeug näherte sich von weitem dem Brunnen.
Der Lkw zog eine lange Staubfahne hinter sich her.
Wie er unschwer feststellen konnte, handelte es sich um einen alten englischen Bedford.
Ein ganz gewöhnlicher Tiertransporter, der da auf ihn zukam.
Mit kreischenden Bremsen kam der Lkw direkt neben ihm zum Stehen.
Das Meckern der durchgeschüttelten Ziegen auf der Transportfläche war unüberhörbar.
Der junge Fahrer des Bedfords riss die Fahrertür des Lastkraftwagens auf, um herauszuspringen.
Grußlos, ohne den Europäer anzusehen, begab sich der Araber zum Brunnen, um daraus frisches Wasser für die Tiere auf der Ladefläche zu schöpfen.
Schnell verrichte er seine Tätigkeit, um anschließend die Ladefläche des Transporters zu schließen.
Er sprang auf dem Fahrersitz, warf die Tür hinter sich zu und fuhr langsam, den Schlaglöchern ausweichend, davon.
Sensburgs Blick fiel auf den Rand des Brunnens, auf dem der Araber den Fördereimer stehen gelassen hatte.
Unter dem Eimer sah er einen Zettel, den das Wasser leicht durchnässt hatte.
Die schwarze englische Schrift war aber noch gut zu erkennen: Bitte folgen Sie mir. Nehmen Sie den Zettel mit!
Es wurde immer mysteriöser.
Er blickte dem Lkw hinterher, der Bedford war noch immer in Sichtweite und Sensburg schien es, dass der Transporter die Geschwindigkeit verlangsamt hatte.
Sein Entschluss erfolgte schnell.
Da er unter Zeitdruck stand, hastete er zurück in den Jeep, denn jeden Augenblick konnte der Bedford aus seinen Augen verschwinden. Sensburg warf sich hinter das Lenkrad und nahm die Verfolgung des Tiertransporters auf.
Er braucht ja nur der Staubfahne zu folgen.
Allerdings in weitem Abstand, es beschlich ihn das Gefühl der Unsicherheit.
Hoffentlich war das kein Fehler, dachte er, denn er wusste sehr genau, dass es in dieser Region auch unehrenhafte Menschen gab.
Einen Europäer konnte man entführen und dafür Lösegelder verlangen.
Indi Ringmanns Story war ihm noch in bester Erinnerung. Und welche Blessuren Ringmann erhalten hatte, war ihm sehr bewusst. So nach dem Motto: Es muss nicht immer ein verbranntes Gesäß sein, man kann sich auch schmerzhaft die Finger verbrennen.
Irgendwie war ihm das Risiko bewusst, das er einging, doch seine Neugier war einfach viel zu groß. Sie war der Motor der ihn trieb und ihn den Transporter weiter folgen ließ.
Ab und zu schaute er sich beim Fahren um, doch es war nirgendwo etwas Verdächtiges zu sehen.
Langsam zog wieder Ruhe in ihm ein.
Der Bedford fuhr direkt auf ein Zeltlager zu.
Es mochten wohl so um die hundert Schafe und Ziegen gewesen sein, die sich rundherum niedergelassen hatten.
Erschreckt durch das Herannahen der Fahrzeuge wichen die Tiere aus. Einige liefen hinter die Zelte der Beduinen.
Der Lastkraftwagen stoppte vor einem Zelt.
Sensburg beobachtete, wie der Fahrer des Transporters hinter dem Bedford hervorkam, um ihn mit der Hand ein Zeichen zu geben.
Er winkte ihn heran, um hinter den Bedford zu parken.
Wie Sensburg erkannte, diente der Bedford als Sichtschutz.
Hinter dem Bedford war der Jeep von der Straße nicht mehr zu sehen. Sensburg tat, wie ihm geheißen wurde und lenkte sein Fahrzeug in den Schatten des Transporters.
Nachdem er den Jeep verlassen hatte, kamen weiß gekleidete Menschen aus den Zelten und bewegten sich langsam auf ihn zu.
Ein älterer, in der typischen Tracht der Beduinen gekleideter Mann, gab ihn durch Handzeichen zu verstehen, ihm in ein Zelt zu folgen. Sensburg gab dem alten Beduinen die Hand, die daraufhin kräftig geschüttelt wurde.
Der Alte legte vertrauensvoll seine Hände auf die Schultern des Europäers und dirigierte ihn direkt in das größte vorhandene Zelt.
In dem Zelt saßen acht Araber, heftig ins Gespräch vertieft, im Kreis auf einem Teppich.
Beim Betreten des Zeltes trat augenblicklich Schweigen ein.
Die Männer, mit den verwegenen Gesichtern der Wüste, fixierten die Eintretenden. In ihrer Mitte wurden ihnen Plätze zugewiesen.
Sensburg setzte sich mit seinem neuen Begleiter nieder und begrüßte die Runde mit typischen arabischen Gruß: Salem Aleikum. Worauf die Gruppe mit: Aleikum Salam, antwortete.
Entschuldigen Sie, wir wussten nicht genau, dass Sie unserer Sprache mächtig sind. Daher haben wir Sie erst einmal auf Englisch in unserer Einladung angesprochen. Es macht aber die ganze Angelegenheit einfacher, wenn wir sie in unserer Sprache bereden können. Zustimmend nickte Sensburg mit dem Kopf.
Aber lassen Sie mich zuerst einmal Tee einschenken.
Der Beduine auf seiner linken Seite griff zu der großen silbernen Kanne, um Sensburg ein Glas mit heißem Tee zu füllen.
Er fügte das obligatorische grüne Pfefferminzblättchen mit viel Zucker hinzu, um danach Sensburg das Glas zu reichen.
Sensburg nahm das Glas in beide Hände und bedankte sich artig: Schukra.
Mittlerweile hatte sich die Stille gelegt, die Männer fingen wieder an zu diskutieren.
Jens Sensburg war überrascht, wie offen diese Araber über die politische Lage diskutierten.
Scharf wurden Positionen der Regierung in Bagdad angegriffen. Sensburg musste seine Zunge hüten.
Derartige Töne war man in diesem Land einfach nicht gewöhnt.
Sein linker Nachbar wandte sich an ihn:
Sie hören ja, wie wir denken.
Offensiv wurde er aus der Runde um Stellungnahme zur aktuellen politischen Lage des Landes aufgefordert.
Sie können hier ganz offen sein, wir sind hier alle Freunde, forderte ihn sein Nachbar auf zum Mitdiskutieren auf.
Sensburg musste sich auf die Zunge beißen, um ja nichts Falsches zu sagen.
Er hielt sich geschickt an allgemein verbindliche Aussagen.
Nach dem Motto, bloß nichts Falsches sagen, was man ihm nachher negativ auslegen könnte.
Er musste sehr vorsichtig sein, er kannte diese Leute nicht, die sich hier schonungslos offen äußerten.
Die Diskussion war vielschichtig aber es drehte sich hauptsächlich um die Missstände im Land.
Für gewöhnlich bekamen die UNO und die Juden die Schuld bei derartigen Diskussionen. Hier war das anders.
Man war sich sehr wohl bewusst, wer der Auslöser der Sanktionen war.
Heftig wurde der Wassermangel beklagt.
Bagdad verbrauchte den größten Teil der Wasservorräte, sodass in südlicheren Teilen des Landes nichts mehr für die Menschen und Tiere ankam.
Langsam fühlte Sensburg ein immer stärker werdendes Unbehagen in sich heraufziehen.
Wo war er nur gelandet?
Wenn das bekannt wurde, dann konnte es ihm große Schwierigkeiten einbringen.
Sensburg entschloss sich vorerst der Diskussion zu entziehen.
Er schaute in die Runde.
Alte und junge Gesichter hatten sich hier versammelt.
Aber eines davon kam ihn sehr bekannt vor. Irgendwoher kannte er den jungen, schlanken Mann in der weißen Tracht der Beduinen.
Wir haben uns doch schon einmal kennen gelernt?
Freundlich nickte ihn der junge Araber zu.
Mein Name ist Rami, antwortete er.
Sofort wurde Sensburg klar, wen er da vor sich hatte.
Es war der junge Mann aus dem Al-Rashid-Hotel, der ihn den Brief zugesteckt hatte.
Ich erinnere mich sehr genau an Sie, antwortete Sensburg.
Von Ihnen habe ich diese Einladung erhalten, er zog den Brief aus dem Rucksack.
Der junge Mann aus dem Al-Rashid-Hotel räusperte sich, plötzlich wurde es still in der Runde:
Darf ich Ihnen meinen Vater vorstellen?, wobei er mit seiner rechten Hand auf den alten Araber an der Spitze der Gesellschaft zeigte.
Mein Vater ist sozusagen Chef dieses Clans. Wir sind eine große Familie und haben im ganzen Land Einfluss. Aber wie Sie sicherlich schon vernehmen konnten sind wir mit der derzeitigen Entwicklung nicht einverstanden. Die Politik der Regierung in Bagdad ist unmenschlich. Zu viele Menschen haben schon ihr Leben gelassen. Auch unsere Familie ist davon betroffen. Zwei meiner Brüder sind in den Gefängnissen einfach so verschwunden. Man teilt uns nicht mit, was aus ihnen geworden ist. Man hat uns enteignet. Heute stehen auf unseren Ländern Bohrtürme der Regierung. Solange dieses Regime an der Macht ist, werden wir unsere Brüder, sofern sie noch leben und unsere Ländereien nicht mehr zurückbekommen. Wir sind zum Handeln gezwungen. Und das ist auch der eigentliche Grund weshalb wir Sie hierher eingeladen haben. Wie wir wissen, haben Sie gute ausländische Beziehungen. Aber zuerst einmal möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen. Die von uns versprochenen Schätze in der Wüste gibt es wirklich, aber nicht so, wie wir es in der Einladung formuliert haben. Die verborgenen Schätze sind das unermessliche Erdöl, das sich auch hier direkt unter uns befindet. Und es ist immer noch unser Land. Das Land der Beduinen. Wie wir genau wissen, befinden wir uns über einem großen Erdölvorkommen. Das weiß natürlich auch die Regierung in Bagdad.
Sensburg wurde es immer unbehaglicher in seiner Haut, am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen.
Der Mann namens Rami fuhr mit seiner Erklärung fort: Seien Sie versichert, dass wir Sie in keine unangenehme Lage bringen wollen. Wir haben nur eine kleine Bitte. Flehend sah er dabei Sensburg aus seinen dunklen Augen an.
Wir wissen, dass sie Kurierpost nach Österreich schicken, nach Innsbruck um es genau zu sagen.
Also müssen die doch jemandem im Lager haben, der sich sehr genau auskennt, dachte Sensburg, wobei er ein leises Hintergrundgeräusch wahrnahm.
Was es genau war, konnte er nicht mit Sicherheit bestimmen.
Es klang wie das Motorengeräusch eines Helikopters aber er war sich nicht sicher.
Was erbitten Sie von mir, fragte er sehr direkt.
Wir möchten ihren Postweg benutzen, denn wir verfügen über eine Liste von namhaften Wissenschaftlern dieses Landes, die am geheimen Aufrüstungsprojekt, des chemischen und atomaren Geheimprojekts des Irak, beteiligt sind.
Die Unterlagen müssen auf dem schnellsten Weg nach Wien zur IAEA. Man wartet schon bei der Atombehörde auf diese Informationen!
Warum soll ich das ausgerechnet machen, es gibt doch die UNO und ihre Inspekteure, die das ganze Land nach Waffen und gerade nach diesen Informationen durchsuchen?
Für uns ist es viel zu gefährlich, wir können uns nicht direkt an die UNO wenden.
Die Inspekteure und das gesamte Personal des Hauptquartiers in Bagdad aber auch sonst wo, werden jeden Augenblick vom Geheimdienst des Landes überwacht.
Wir haben es ja schon probiert und haben dabei unsere besten Leute verloren, unter anderen auch meine Brüder. Sie verstehen, was ich meine?
Sensburg saß ein dicker Knoten im Hals, krächzend antwortete er: Ich bin Archäologe, meine Aufgabe ist es historische Stätten auszugraben. Ich bin kein Geheimagent und es ist mir strengstens verboten mich in die Angelegenheiten meines Gastlandes einzumischen. Ich muss ihr Anliegen ablehnen. Sie bringen mich und das ganze Ausgrabungsteam in Gefahr. Das kann und darf ich als Leiter der Expedition nicht zulassen!
Während er redete, war das Helikoptergeräusch erneut zu hören.
Herr Sensburg, händeringend wandte sich ein bis jetzt unbeteiligter cirka vierzigjähriger Mann von rechts an ihn: Sie sehen doch was in diesem Land los ist, täglich sterben unsere Kinder durch die Schuld des Regimes. Das Land ist durch die Kriege und das Embargo ausgeblutet. Der Irak ist nicht das Land der Regierung in Bagdad, es ist unser Land, es ist kaputt. Und ein neuer Krieg steht schon wieder vor der Tür!
Sensburg fiel ihm ins Wort, was sonst gar nicht seine Art war, er konnte sich einfach nicht bremsen: Ein neuer Krieg bedeutet noch mehr Leid und Tod für alle in diesem Land!
Diesmal antwortete Rami, eher zögernd leise sehr sensibel: Ein neuer Krieg bedeutet wirklich mehr Leid und Tod für dieses Land, aber was sollen wir machen, es muss geschehen, wir allein schaffen es nicht. Keiner hatte es bis jetzt geschafft den Diktator zu beseitigen, unsere Hoffnung zielt auf den Umsturz von außen. Es wäre sozusagen der letzte Schritt in die richtige Richtung. Sollten wir dabei unsere Leben verlieren, dann war das nicht umsonst. Allen hier ist klar, was das bedeutet.
Die Anwesenden nickten zustimmend mit ihren Köpfen.
Diese Papiere garantieren den Einmarsch und damit den Fall der Regierung in Bagdad. Sie wissen gar nicht, wie schlau sich das Regime verhält, wie es die Inspekteure an der Nase herum führt. Die haben aus der Zeit der früheren Inspektionen viel gelernt. Nach unseren Erkenntnissen haben die UNO-Inspekteure überhaupt gar keine Chance an die geheimen Labors und Archive zu gelangen. Mit einem ganz einfachen Trick führt man diese Leute an der Nase herum.
Und der wäre?, fragte Sensburg neugierig.
Die Frage können Sie sich fast selbst beantworten. Der Mann der sich Rami nannte lehnte sich ein bisschen zurück: Über welchen Rohstoff verfügt der Irak am meisten?
Öl, antwortete Sensburg kurz und bündig.
Genau, dieser Stoff versetzt die Regierung in die Lage fahrende Labors zu betreiben. Sie werden staunen und das geht auch aus diesen Unterlagen, um deren Weiterreichung ich Sie noch einmal bitten möchte, klar hervor. Alle wichtigen, militärischen Forschungsprojekte hat die Regierung ganz einfach auf Räder gestellt. Die Wissenschaftler fahren mitsamt ihren Projekten durch das Land und sind daher für die Inspekteure nie anzutreffen. Nach einem ausgeklügelten System fahren sie von Zeit zu Zeit Fabriken, große zivile Forschungseinrichtungen zum Beispiel der Pharmazie an, um dort ihre Experimente durchzuführen. Danach verschwinden sie ganz einfach wieder im Lande, sozusagen auf nimmer Wiedersehen. Sie wissen doch genau, wie es in diesem Land auf den Straßen aussieht. Sie sind verstopft mit Lastwagen und Öltransportern, die sich in alle Himmelsrichtungen bewegen. Und genau da sind sie mitten drin, als ganz normale Gütertransporter getarnt, fahren sie über die Straßen. Nur der Geheimdienst kennt ihre Wege und natürlich die Regierung in Bagdad. Ich bin mir sicher, dass diese Fahrzeuge Ihnen schon einmal begegnet sind, ohne das sie den leisesten Zweifel an der Funktion dieser ganz normal aussehenden Trucks hatten. Ich wiederhole es noch einmal, sie müssen uns helfen, gegen diese Leute haben wir sonst keine Chance. Ich bin mir sicher, dass sie nach der Beendigung des Krieges Ihre Forschungsarbeiten wieder aufnehmen können. Aber dann unter den Bedingungen eines freien Iraks, befreit von dem Tyrannen!
Allah hu Akbar!, skandierten die Anwesenden.
Sensburg schmeckte der Tee, der ihm hier gereicht wurde, ganz und gar nicht. Irgendwie fühlte er sich aber auch hin- und hergerissen.
Seit seiner Ankunft in dem schwergeprüften Land, hatte er die Sorgen und Nöte der Menschen ausgiebig kennen gelernt.
Er konnte den Wunsch der Menschen gut verstehen, die Diktatur endlich los zu sein. Die Frage stellte sich nur, wie hoch war der Preis für die Freiheit?
Wie viele Menschenleben würde der anstehende Krieg kosten?
Und was kam danach?
Durfte er sich so massiv an der politischen Entwicklung dieses Landes beteiligen?
Oder war es vielleicht doch ratsamer die Zeit und das Ende der Diktatur abzuwarten?
Das die Iraker die Weltöffentlichkeit an der Nase herumführten, das war ihm schon seit langem klar.
Alle Augen der Beteiligten an dieser Runde hatten sich auf ihn gerichtet. Man erwartete seine Antwort.
Sensburg versuchte ruhig und sachlich zu erklären: Sie müssen wissen, ich verstehe ihre Lage, aber ich kann Ihrer Bitte nicht Folge leisten. Das Risiko für meine Leute und mich ist viel zu hoch. Was ist, wenn diese Dokumente doch gefunden werden? Alles was aus dem Land gebracht wird, wird von der irakischen Polizei untersucht. Das Risiko ertappt zu werden ist einfach viel zu hoch! Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich Ihre Bitte abschlagen muss!
Während er in die schweigende Runde sah, hörte er wieder das schwache Motorengeräusch.
Enttäuschung machte sich in der Runde breit.
Die Männer sahen ihn aus verständnislosen Augen an.
Der junge Mann der sich Rami nannte schüttelte den Kopf und antwortete resignierend: Dann können wir Sie also nicht umstimmen, schade, es war ein Versuch wert. Ich möchte Sie aber noch bitten, niemandem von diesem Treffen hier zu erzählen. Sie würden Ihre eigene und unsere Sicherheit gefährden.
Schweigend standen die Männer auf um das Zelt zu verlassen.
Rami führte Sensburg zum Landcruiser.
Beide verabschiedeten sich höflich, wobei Sensburg wieder dieses Motorengeräusch vernahm, ganz leise, bis er die Tür des Jeeps schloss um kurz danach den Motor des Wagens zu starten.
Irgendwie wollte er schnell von hier wegzukommen.
Das heikle Gespräch saß ihm immer noch in den Knochen.
Langsam beruhigten sich seine Nerven, das ruhige Brummen des Motors tat das Seinige.
Jens Sensburg war sich sicher, das Richtige getan zu haben.
Bei allem Verständnis, diese Nummer wäre viel zu groß geworden.
Er wollte als Archäologe in die Geschichte eingehen, nicht aber als auslösender Faktor des nächsten Irakkrieges.
Er war heilfroh, als er die alte Karawanenstraße ereichte.
Es erfolgte das gleiche Ritual wie auf der Hinfahrt.
Der Slalom, um die Schlaglöcher auf der Straße, beanspruchte seine ganze Konzentration.
Obwohl er zwischendurch immer wieder einmal im Gedanken zu dem vorherigen Gespräch zurückkehrte.
Weit hinten konnte er den alten Beduinenbrunnen erkennen, an dem er den Bedford zu folgen begonnen hatte.
Während er auf das nächste Schlagloch zufuhr, ließ er seinen Blick durch die Frontscheibe in den Himmel schweifen.
Ganz weit oben erkannte er weiße Kondensstreifen im fast blauen Himmel.
Amerikanische oder englische Jets, dachte er, um sich gleich wieder der Straße und ihren Schlaglöcher zu widmen.
Immer wieder glitt sein Blick in den Himmel, schnell kamen die Streifen näher.
Plötzlich übertönte ein immer stärker werdendes Motorengeräusch die Fahrgeräusche des Jeeps.
Es war das Geräusch, das er vorhin schon mehrfach im Zelt wahrgenommen hatte. Und das er eindeutig als Motor eines Hubschrauber identifizierte.
Bloß woher kam es?
Er konnte in den Rückspiegeln nichts erkennen.
Schnell entwickelte sich das Motorengeräusch zum Dröhnen über ihm, um ihn herum wurde Staub aufgewirbelt.
Abrupt trat Sensburg auf die Bremse, um den Jeep zum Stehen zu bringen.
Er warf die Fahrertür auf und sprang aus dem Fahrzeug.
Noch im Herausspringen, drehte er seinen Kopf nach oben.
Zirka zehn Meter über ihm stand ein irakischer Kampfhubschrauber mitten in der Luft.
Diesen Helikoptertyp erkannte er wegen des unverkennbaren Designs sofort. An der eigenwilligen Form konnte Sensburg leicht den Typ feststellen.
Die übereinander stehenden runden Kanzeln, die angewinkelten Stummelflügel mit den Raketenwerfern darunter ließen keinen Zweifel zu.
Er konnte sogar die beiden Piloten erkennen, die ihn ansahen.
Es handelte sich hier ganz klar um einen irakischen Mil-24 aus russischer Produktion.
Wie ein überdimensioniertes Tier stand die Maschine vor ihm in der Luft und wirbelte einen gewaltigen Staub auf.
Was kommt nun, dachte Sensburg.
Dabei drehte er seinen Kopf zur Seite um zu den Jets zu schauen, die sich jetzt in unmittelbarer Nähe befanden.
Und seine Ahnung täuschte ihn nicht.
Mit rasender Geschwindigkeit kam eine der Maschinen aus großer Höhe herab.
Gleich wird es passieren, Sensburg sah wieder in die Richtung des Militärhubschraubers, der nach einem kurzen Anrucken nach rechts zur Seite auszuweichen versuchte.
Jens Sensburg hechtete sich an den Rand der Straße, konnte dabei aber beobachten, wie sich ein kleiner schneller Punkt von dem Flugzeug löste, um pfeilschnell in den irakischen Hubschrauber einzuschlagen. Ein gewaltiger Blitz schoss aus der Mil, um den Helikopter mit lautem Knall zu zerreißen. In alle Himmelsrichtungen wirbelten die Teile des abgeschossenen Hubschraubers.
Sensburg wusste nach dem Vorfall nicht genau, wie lange er den Kopf vor Angst in den Sand gesteckt hatte.
Der Lärm der Düsentriebwerke, der niedrig fliegenden amerikanischen F 16, ließen ihn den Kopf in die Höhe heben.
Er bemerkte um sich herum die Trümmer des abgeschossenen Hubschraubers und erkannte, was für ein großes Glück er gerade hatte. Die Trümmer hätten auch ihn treffen können.
Die F 16 entfernte sich und gewann schnell an Höhe.
Er war froh mit heiler Haut davon gekommen zu sein.
Am ganzen Körper zitternd stieg er in den Jeep.
Es war klar, dass er hier ganz schnell verschwinden musste aber viele unbeantwortete Fragen gingen ihm durch den Kopf.
Und noch etwas war ihm klar, er hatte Angst, eine riesige Angst!