Mit dem Zug durch den Urwald, über Schluchten
Durch die Serra do Mar
Es quitscht und kreischt fast unablässig in unterschiedlichen Höhen, wäre es lauter und näher am Ohr, es würde schmerzen. Doch leise genug, entfernt genug, oder ist es die gnädige Altersharthörigkeit?, wie auch immer, dies sind die durchgehenden Obertöne, die untermalt werden durch das rhythmische klann-gann, klann-gann, klann-gann, wenn die Radreifen die Dehnungsfugen der Schienen treffen.
Eine enge Kurve liegt vor uns, der Blick voraus zeigt die silbrige Schienenspur, die Ferdinand Lasalle 1883 offensichtlich nicht mit einem Zeichengerät, sondern freihändig etwas zittrig festgelegt hatte. Oder es waren die Erdrutsche, die heftigen Regenfälle und Steinlawinen, die nicht nur die Schienen verbogen, sondern auch Frachtwagons umwarfen, deren rostige Überbleibsel schnell vom Urwald überwuchert und assimiliert werden.
110 Km führt die Bahnstrecke lang, die Paranagua mit Curitiba verbindet, durch den Regenwald, den Schluchten müssen 951 Höhenmeter überwunden werden in einem unzugänglichem Gebiet. Mit großem Respekt sehen wir was Ferdinand Lasalle und seine Bautrupps im 19.Jh. geschaffen haben. Und etwas traurig ist dann der Anblick der aufgelassenen Bahnstationen. 15 dieser kleinen Bahnhöfe versorgten früher das Einzugsgebiet der Bahn, waren Treffpunkt der Leute und Wartungsstützpunkte für die Trasse, die auch heute noch nur dank intensiver Dauerpflege benutzbar ist.
Nur zwei dieser Stationen werden noch erhalten, die anderen fordert der Urwald als Ruinen wieder zurück.
Wir sind in Morretes in den Zug gestiegen, die Strecke ganz bis nach Paranagua wird nur noch sonntags mit dem Personenzug befahren. Morretes ist eine hübsche, gepflegte Kleinstadt mit kolonialer Vergangenheit und Schnapsbrennereien, heutzutage hat sie eine Bedeutung im Ökotourismus, sie Ausgangspunkt für Bergwanderungen,
Rafting, Klettern, Bootstouren. In der Umgebung gibt es eine vielfältige Landwirtschaft, Obst Gemüse, Viehwirtschaft, alles ist vorhanden. Die alte Bausubstanz wird gepflegt, sorgfältiges Kopfsteinpflaster auf den Straßen zeugt von früherem Reichtum.
Kunsthandwerk, Galerien und eine öffentliche Bibliothek, die auch die städtische Bildergalerie beinhaltet, sowie eine reichhaltige Gastronomie und zahlreiche Pousadas tragen zum städtischen Leben bei.
Ein gewundener Flusslauf durchzieht in einem tiefen Bett die Stadt, die Felsen am Grund und am Ufer wurden von den häufigen Hochwassern rundgeschliffen.
Die verkürzte Strecke von Morretes nach Curitiba, der Hauptstadt des Staates Parana, oben auf der Hochebene dauert drei Stunden lang, zu lang um im Alltag mit dem Bus konkurrieren zu können, der sein Passagiere in einer Stunde dorthin befördert. Und so ist dieser Zug hauptsächlich ein touristisches Vergnügen, unter den Bahnenthusiasten soll diese Strecke weltweiten Ruf haben. Heute an einem etwas regnerischen Wochentag sind jedoch nur ein Dutzend Passagiere an Bord der „Touristenklasse“, der noble silberglänzende „Executive- Wagon“ fährt völlig leer mit; wer wollte denn da auch rein, wo man die Fenster nicht öffnen, vor und zurückblicken kann, dies aber bitte mit Vorsicht, denn die Wedel der riesigen Farne, die Zweige und Blätter der Bäume streifen vielerorts den Zug. Und auch wenn dieser nur langsam unterwegs ist, mit 30 Km/h von einem scharfen Farn gepeitscht zu werden schmerzt erheblich.
Der Urwald ist dicht, und das Wetter just so wie meist hier: nass und kühl hängen die vom Atlantik kommenden Wolken an dem Bergmassiv des Hochlandes, davor liegt die Senke des Paranagua Beckens mit seinen Mangrovensümpfen, Wasserläufen und Flüssen, eine Landschaft, in der das Meer und Land verzahnt, mit fließenden, unscharf wandernden Grenzen. Hieraus erhebt sich das schroffe Gebirge, dessen Granit nur mit einer dünnen Schicht Humus überdeckt ist, die von einer üppigen Vegetation gehalten wird. Doch dort, wo gebaut wird, wo abgeholzt wurde, ist dieser Halt gelockert und der fruchtbare rote Erdmantel des Gesteins kommt ins Rutschen, entblößt den grauen glänzend Granit; dessen Oberflächen ist jedoch nur scheinbar fest, die Verwitterung reicht weit unter die Oberfläche eine trügerische Stabilität vorgaukelnd. Und überall wuchert es, einige Pflanzen sind dem Europäer aus dem Garten, aus dem Blumenladen bekannt, Orchideen und riesige Hortensienbüsche, Baumfarne, Palmen. Jede hohe, größere und ältere Pflanze wird wiederum besiedelt durch ihre Saprophyten, die deren ursprüngliche Kontur in etwas neues, anderes verwandeln.
Der Zug ist einfach eingerichtet, schlichte gerade Bänke mit blauem Plastikpolster, nichts für lange Fahrten, doch die sind ja auch nicht vorgesehen. Eine Zugbegleiterin verteilt ein Getränk nach Wahl und süßes Backwerk, im Fahrpreis inbegriffen. Unser Zug wird von einer Diesellok gezogen, langsam müht sie sich den Berg hinauf. Die früher vorhandenen Spitzkehren sind etwas weiteren Kurven gewichen, auch Güterzüge, gezogen von jeweils drei Lokomotiven sind unterwegs. Auf der eingleisigen Strecke sind Ausweichplätze geschaffen worden, an denen die Züge passieren können. Tankwagen und Container reihen sich aneinander und geben der Strecke ihre wirtschaftliche Bedeutung.
An den Hängen der Schluchten und darüber führen 41 Stahlviadukte und 32 Brücken, die Lasalle in Belgien hat anfertigen und als Bausätze nach Brasilien importieren lassen.
Nach wie vor intakt zeugen sie von der hohen handwerklichen Qualität der Stahlbauer. 13 Tunnel mussten durch den Fels gehauen werden, die so eng sind, dass man besser weder Kopf noch Hand aus dem Fenster strecken sollte.
Die dichte Vegetation lässt nur selten einen Fernblick zu, der Blick aus dem Fenster beim Passieren eines Viaduktes fällt in den seitlichen Abgrund, ein schmales Band aus belgischem Stahl hält den Zug in der Luft.
Angekommen auf der Hochebene ändern sich Landschaft und Vegetation: Hügel und Hochmoore, Ackerland, Weidenstatt der Schroffen und Schluchten. Die Wolken, die an den Berghängen festsaßen sind durchfahren, die
abendliche tiefstehende Sonne beleuchtet lichte Araukarien Wälder und die ersten Vororte von Curitiba, einer Millionenstadt. Die Zugbegleiterin ermahnt uns die Fenster zu schließen, denn es könne sein dass hier der Zug mit Steinen beworfen würde, was allerdings nicht passiert.
Vielmehr sehen wir ärmliche Siedlungen, die jedoch beeindrucken durch die erkennbaren Bemühungen, die Behausungen zu Häusern zu machen, Gärten anzulegen. Hier leben Menschen, die sich mit ihrer Wohngegend
identifizieren und einige haben es auch schon zu etwas Wohlstand gebracht, ein Auto vor der Tür, eine saubere Gartenmauer, gestrichene Häuser, eine aufstrebende Gegend, deren Einwohner nicht wegziehen wenn sie besser verdienen sonder in ihrer Nachbarschaft bleiben. Hier empfinden wir nichts Bedrohliches, vor Jahren mag das sicherlich noch anders gewesen sein.
Die Ankunft in Curitiba bei einsetzender Dämmerung ist unangenehm und beklemmend. Großstadtlärm und Verkehr, Hochhäuser so weit das Auge blicken kann, Bedrängnis, wie kann ein Mensch darin Leben?
Doch direkt gegenüber der Bahnstation befindet sich der Busbahnhof, von wo aus wir wenige Minuten nachdem wir den Zug verlassen haben schon wieder mit dem Bus unterwegs sind hinaus aus diesem Besiedelungsmoloch, zurück nach Paranagua, eine Stunde Fahrt und dann noch fünf Minuten mit dem
Beiboot bis zum Ankerplatz nach Hause an Bord der TWIGA.